Gehfrei: sind Lauflernhilfen gut oder schlecht? Das sagen Ärzte

Laufen Lernen ist für ein Kind eine langwierige Sache. Viele Eltern unterstützen diesen Prozess mit der Verwendung von Lauflernhilfen. Ob diese positiven Absichten zielführend sind, wird im folgenden Artikel nachgegangen.

Kleinkind lernt laufen

In diesem Artikel

„Also lautet ein Beschluss: Daß der Mensch was lernen muss.“

* Wilhelm Busch aus
Max und Moritz, Vierter Streich

Ab dem Tag der Geburt (sogar schon im Bauch der Mutter), ist Lernen für jeden Menschen ein lebensbegleitender Prozess. Dieser bezieht sich nicht nur auf die allgemeinbildenden Schulen oder Studium und Berufsausbildung, sondern vor allem auf die Erfahrungen, die der Mensch für seine Entwicklung in seinem sozialen Umfeld benötigt.

Video-Tipp

Sind Lauflernhilfen nützlich?

Natürlich wollen Eltern ihre Kinder in deren Entwicklung unterstützen. Zahlreiche Frühförderkonzepte und unterstützende Lernhilfen bietet der Markt an. Nicht selten kommt es dabei zu Überforderungen der Kinder oder der Benutzung von teilweise fragwürdigen Hilfsmitteln. Ein Beispiel dafür wäre die Verwendung von Lauflernhilfen für Babys und Kleinkinder. Dabei handelt es sich um eine Art Wagen, in den das Kind gesetzt wird. Es sitzt in einem Gurt, ringsum oft ein „Tisch“ mit Spielsachen, seine Füßchen erreichen den Boden und jede Art von Abstoßen erzeugt zudem eine Bewegung des Gerätes in irgendeine Richtung. Die Geräte werden indes auch als „Gehfrei“ bezeichnet.

Gründe für Nutzung einer Lauflernhilfe

  • Freie Bewegung für die Kinder im Raum
  • „Sichere“ Aufbewahrung – „Freiraum“ für Eltern (zeitlich, rückenschonend, angstmindernd)
  • Förderung des Laufen Lernens

Was sagen Ärzte zur Nutzung von Lauflernhilfen?

Stellungnahme des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte e.V.: „Gehfrei (…) ist das gefährlichste Verwahrgerät im Säuglingsalter“.

  • Dr. med. Wolfram Hartmann (Präsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte):
    • „Mit Lauflernhilfen geraten Kinder in Sekundenschnelle in gefährliche Bereiche wie Herd oder Treppenabgänge. Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte fordert schon seit Langem ein Verbot dieser Produkte in der EU.“ betont er.

MKK (Mühlenkreiskliniken) Pressemitteilung vom 27. Mai 2013, Minden

  • Professor Dr. Bernhard Erdlenbruch, Chefarzt der Kinderklinik im Eltern-Kind-Zentrum im Johannes Wesling Klinikum Minden):
    • „Gehfrei-Wagen sind höchst unfallträchtig. Wir lehnen sie deshalb rigoros ab.“ (Zitat www.kindersicherheit.de/pdf/2010Gehfrei.pdf)

Empfehlung der Bundesarbeitsgemeinschaft „Mehr Sicherheit für Kinder e.V.

  • Martina Abel (Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft):
    • „Jeder dieser Unfälle wäre vermeidbar, wenn Eltern Lauflernhilfen erst gar nicht verwenden würden“. „Verzichten Sie auf Lauflernhilfen! Sie schaden der natürlichen Bewegungsentwicklung und bringen Kinder in ernste Gefahren.“

Stellungnahme der europäischen Vereinigung für Kindersicherheit ECSA (European Child Safety Alliance) und ANEC (europäische Vereinigung zur Vertretung von Verbraucherinteressen) – in der ECSA und ANEC sind insgesamt Experten von über 30 EU-Ländern vertreten:

  • Experten der EU-Gremien empfehlen Verantwortlichen, über ein EU-weites Verbot nachzudenken. Ihre Begründung:
    • „Lauflernhilfen verursachen nach wie vor ungewöhnlich viele Unfälle bei Kleinkindern und Säuglingen.“

Babyfüße

Gefahren

Das Kind kann sich nicht aus dem Gerät befreien. Es ist dem Gerät förmlich ausgeliefert, kann es weder sicher steuern noch rechtzeitig anhalten. Deshalb stößt es sich an Kanten oder stürzt, oft mehrmals hintereinander, auf den Kopf (z.B. Treppe). Es kommt auf einmal an Bereiche heran, die bisher keine Gefahr bedeutet haben – die Tischdecke mit heißem Tee, der Herd mit Kochtöpfen, Medikamente auf dem Beistelltisch, Wasserstellen … Dementsprechend erhöht sich die Unfallgefahr für das Kind im eigentlich sicheren Haushalt der Eltern drastisch. Und noch viel wichtiger: Der natürliche Lernprozess wird gestört! Folglich treten weitere Gefahrenquellen auf:

  • Entwicklung von Fußfehlstellungen und Bewegungsanomalien beim Laufen
  • Falsche Wirbelsäulenbelastung (viel zu lange in der senkrechten Position, bevor die Muskeln von selbst so weit sind, die Last zu tragen)
  • Vernachlässigung der Aufsichtspflicht der Eltern wegen vermeintlich sicherer „Aufbewahrung“ ihres Kindes
  • „Hohe“ Geschwindigkeit, die weder an die Reaktionsfähigkeit des Kindes noch die der Eltern angepasst ist

Folgen der Nutzung

  • Pro Jahr erleiden ca. 6000 Kinder einen vermeidbaren! Unfall
    • Kopfverletzungen wie Gehirnerschütterung, Schädelbrüche, Gesichtsverletzungen
    • Querschnittlähmung
    • Verbrennungen/ Verbrühungen/ Vergiftungen
    • Treppenstürze
    • Ertrinkungsunfälle
  • Behandlungspflichtige Erkrankungen (Füße, Wirbelsäule)
  • Behandlungspflichtige Bewegungsmuster (Zehenspitzengang)
  • Verzögerte Entwicklung des Laufen Lernens

Empfehlungen von Experten

  • Keine Verwendung von Lauflernhilfen
  • Wohnung kindersicher machen
  • Wenn möglich, Kind barfuß laufen lassen
  • Laufen Lernen dem Tempo des Kindes überlassen

Wie erfolgt natürliches Laufen lernen?

  1. Schreitreflex bereits beim Neugeborenen vorhanden
  2. Hüpfen lassen auf dem Schoss der Eltern mit Halten unter den Armen
  3. Aufrichten über Zwischenschritte Seitenlage › Sitzen › Krabbeln
  4. an Gegenständen Hochziehen und Stehen
  5. an Gegenständen Entlanghangeln und die Schrittfolge üben,
  6. freies Stehen und Gleichgewicht erspüren,
  7. freies Laufen ohne Festhalten

Die meisten Kinder beherrschen freies Laufen innerhalb des 12. bis 21. Lebensmonats. Dieser ganze Lernprozess ist mit zahlreichen Landungen auf dem Boden verbunden, was zudem die Ausbildung einer schützenden Abstützreaktion fördert. Die Wirbelsäule, die Füße, die Gelenke, die Muskeln bekommen genau die Belastung, die der kleine Körper verkraftet und Eltern wissen genau, in welchem Umfang ein Betreuungsaufwand nötig ist.

Vertrauen Sie ruhig ihrem Kind und sich als Eltern. Der natürliche Lernprozess ist schließlich beim Laufen lernen der beste Weg.

Quellen:
http://www.kindersicherheit.de/produktsicherheit/datenbank-kinderprodukte/a-z/lauflernhilfen.html#c1022
https://freie-bewegungsentwicklung.de/so-lernen-babys-laufen/?v=3a52f3c22ed6
http://www.navigator-medizin.de/eltern_kind/die-wichtigsten-fragen-und-antworten/kindes-entwicklung-krabbeln-laufen-sprechen/3986-gehfrei-wie-sinnvoll-ist-die-lauflernhilfe-und-ab-wann.html
www.kindersicherheit.de/fachinformationen/studien-und-expertisen.html
www.kindersicherheit.de/pdf/2010Gehfrei.pdf
Busch, Wilhelm; Das große farbige Wilhelm Busch Album; 2012; Bassermann Verlag

Diplom-Medizin-Pädagogin und Hebamme
Wanda Unger ist Diplom-Medizin-Pädagogin und Hebamme. Seit vielen Jahren begleitet sie junge Familien durch die Zeit der Schwangerschaft bis zum 1. Lebensjahr ihrer Babys. Für unser Portal schreibt sie Fachtexte rund um Schwangerschaft, Geburt, Wochenbett, Stillzeit und Babypflege. Als Mutter und Hebamme ist es ihr wichtig, den Familien den Start in den Alltag mit dem neuen Familienmitglied zu erleichtern.
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Wanda Unger ist Diplom-Medizin-Pädagogin und Hebamme. Seit vielen Jahren begleitet sie junge Familien durch die Zeit der Schwangerschaft bis zum 1. Lebensjahr ihrer Babys. Für unser Portal schreibt sie Fachtexte rund um Schwangerschaft, Geburt, Wochenbett, Stillzeit und Babypflege. Als Mutter und Hebamme ist es ihr wichtig, den Familien den Start in den Alltag mit dem neuen Familienmitglied zu erleichtern.
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